Ein Auszug aus der Arbeit: Alevitischer Religionsunterricht in NRW .... von Melek Dogan / 2014
Die Geschichte des Alevitentums ist eine Geschichte von Unterdrückung, aber auch von Emanzipation und Aufklärung. Die Forderung der Aleviten nach Anerkennung leitet sich v.a. aus der Nichtanerkennung im Herkunftsland ab (vgl. Sökefeld 2013). Den Aleviten in der Türkei wird bis heute eine formelle, rechtliche und staatliche Anerkennung verwehrt. Sie werden unter dem orthodoxen Islam subsumiert und als sunnitische Muslime betrachtet, da der türkische Staat keine innerislamischen Differenzierungen zulässt und die Forderungen nach Anerkennung ethnischer und religiöser Differenz als separatistisch wahrnimmt (vgl. ebd.). Folglich werden die Aleviten nicht müde, in der Türkei wie auch in Deutschland den Anspruch zu erheben, gleichberechtigt am öffentlichen Leben teilzunehmen und entsprechend von politischen und gesellschaftlichen Institutionen anerkannt zu werden. Die Aleviten haben es endlich geschafft, sich in der deutschen Öffentlichkeit selbstbewusst zu präsentieren. Die junge alevitische Generation versucht nun, angesichts der Entwicklungen im Alevitentum, ihr (neues) Selbstverständnis zu formulieren.
Die Inhalte der alevitischen Glaubenswege - Interrelgiöse Abgrenzung
Die Inhalte der Glaubenslehre basieren auf den Grundelementen wie Liebe, Respekt und Toleranz gegenüber dem anderen. Die Aleviten betrachten das Wesen des Menschen als Gotteshaus, somit begegnet dem Menschen Gott in jedem Individuum. Daher gilt die Formel enel- hak, „ich bin Gott, Gott bin ich“, als die Grundlage der alevitischen Glaubensvorstellung. Gott wird im Herzen getragen. So ist der Dienst am Menschen gleichzusetzen mit dem Dienst an Gott; „der Einsatz für Menschlichkeit und Gerechtigkeit [ist] als das wahre Gebet und als die wahre Erfüllung göttlicher Aufgaben [aufzufassen]“ (Kaplan/Öztürk 2006, S. 24).
Gott wird nicht im Himmel oder in der Religion gesucht, sondern in der Natur, im Menschen, also in der Schöpfung (Vgl. Kaplan/Öztürk 2006).
Im Gegensatz zum orthodoxen Islam wird keine Trennung von Gott und Mensch vorgenommen. Daraus wird der Respekt für alle Teile der Schöpfung abgeleitet (Vgl. Sökefeld 2008). Dieses Gottes- und Menschenbild ist den Sunniten und Schiiten fremd. Im orthodoxen Islam wird Gott als der Gebieter über Himmel und Erde verstanden. Der Mensch ist Gottes Knecht und hat Ihm bedingungslos zu gehorchen. Dagegen ist nach alevitischer Lehre der Mensch ein Geschöpf „wie Tier und Natur und zusätzlich mit Vernunft ausgestattet“ (Kaplan/ Öztürk 2006, S. 19), sodass er in der Lage ist, den Schöpfer zu erkennen, ihn in seinen Geschöpfen bzw. in seiner Schöpfung zu suchen und zu finden. „Somit gelten die Geschöpfe als die Offenbarung Gottes, durch die er sich zu erkennen gibt.“ (Ebd). Infolgedessen bringen nicht Gebete, Wallfahrten und Moscheenbesuche den Menschen zu Gott, „sondern die Reinheit des Herzens und das Erkennen des eigenen Selbst.“ (Kehl- Bodrogi 1988, S. 122).
Der Mensch, der sich auf dem Weg zu Gott befindet, gilt als autonom und selbstbestimmt, dessen „Erlösung“ aus eigener Kraft erfolgt. Der Begriff „Religion“, der festgelegte und unveränderbare Positionen impliziert, wird im Alevitentum eigentlich nicht benutzt. Vielmehr ist die Rede von einem „Weg“, das als Prozess gesehen werden kann und neue Interpretationen zulässt. Im Alevitentum wird eine andere liberalere Deutung des Islams vorgenommen, dessen Botschaft in Raum und Zeit offen ist für Veränderungen; der Weg kann sich immer ändern und muss es sogar um des Fortschritts wegen. Ziel ist es, auf diesem Weg die Einheit mit Gott zu erreichen, ein „vollkommener Mensch“ (insan-i kamil) zu werden. Damit ist die seelische Reifung und Reinigung durch den alevitischen Weg gemeint (Vgl. Kaplan 2013).
Auf dem Weg zu Gott, gibt es vier Tore, die jeweils mit zehn ethischen Erziehungs- und Bildungszielen und -inhalten bzw. Regeln beschrieben werden („die vier Tore und 40 Regeln“); diese werden auch als die Stufen der Erkenntnis bezeichnet. Sie spiegeln die Vorstellung der Aleviten von lebenslang zunehmender Vervollkommnung des Menschen wider und sind die ethischen Grundlagen des Alevitentums: die Pforte des Gesetzes, die Pforte des mystischen Pfades, die Pforte der Erkenntnis und die Pforte der Wahrheit. Zusammengefasst beinhalten die Pforten folgende Grundsätze: (wissenschaftliches) Lernen, ehrlicher Einkommenserwerb, Vermeidung von Ausbeutung und Ungerechtigkeit, Achtung von Mann und Frau, gesundes Essen und Sauberkeit, das Vertrauen zum Geistlichen, die geringe Bedeutung des Ansehens bzw. Status gegenüber inneren Werten, Beherrschung des eigenen Egos, Achtung gegenüber anderen und sich selbst, Hoffnung auf Gottes Hilfe, Friedfertigkeit, Liebe und Schutz gegenüber Menschen und Natur, Geduld und Genügsamkeit, Bemühen um Erwerb von Wissen, innere Harmonie, Selbstreflexion bzw. Selbsterkenntnis, Bescheidenheit, Selbstbeherrschung, Denken, Gott lieben und im Herzen tragen.
Außerdem sollte der wichtigste ethische Grundsatz, ein Zitat von Haci Bektas Veli, nicht unerwähnt bleiben, woraus die alevitisch-religiöse Identität am erkennbarsten erfolgt und das Gemeinschaftsleben der Aleviten akzentuiert: "Hüte deine Hände, Zunge und Lende!". Im Kern geht es darum, das eigene Selbst zu kontrollieren: Keine Gewalt
anzuwenden, sich nicht an fremder Habe zu vergreifen, Beleidigungen und Verleumdungen zu unterlassen, nicht zu lügen und Geheimwissen zu wahren und keinen Ehebruch zu begehen.
Da die alevitischen Glaubens- und Kulturelemente sich radikal von den der sunnitischen und schiitischen unterscheiden, begegnet man bis heute den Aleviten mit Vorbehalten und Vorurteilen und bezeichnet sie als Ungläubige und Ketzer. Ali wird eine besondere und heilige Rolle zugewiesen. Im Zentrum der alevitischen Religion steht also Ali und die Liebe zu ihm. Mohammed, der Künder und Ali, der Hüter der göttlichen Wahrheit, die beide nach alevitischer Ansicht vom göttlichen Licht abstammen, Fatima (Tochter Mohammeds und Ehefrau Alis) sowie die Söhne Hasan und Hüseyin bilden zusammen den ehlibeyt(Hausgemeinschaft des Propheten) und werden besonders geliebt und geachtet und stellen einen festen Bestandteil in den alevitischen Gebeten dar. Solch eine Heiligenverehrung ist aus sunnitischer Sicht im Islam verboten, da niemand außer Gott angebetet werden darf.
Aleviten beten weder fünfmal am Tag noch besuchen sie Moscheen1, sondern feiern einen Gottesdienst, der cem genannt wird, in einem cem- Haus2 stattfindet und einen hohen Stellenwert in der alevitischen Zeremonie hat.3 Die Gebetsrichtung ist nicht Mekka. Die Aleviten sitzen im Kreis und schauen einander an, womit ihrem Menschenbild entsprochen wird (der Mensch als Gebetsrichtung). Außerdem soll das Sitzen im Kreis den Egalitarismus im Ritual betonen, da – abgesehen vom dede– kein Teilnehmer hervorgehoben wird. „Das Gebet steht für die Versöhnung innerhalb der Gemeinde, für eine Zusammenkunft der Gemeindemitglieder auf reiner und gleichberechtigte Ebene."
Daher müssen vor einem cem- Gottesdienst mögliche Unstimmigkeiten und Streitigkeiten zwischen Gemeindemitgliedern durch den dede ausgeglichen werden, damit jedes Mitglied mit reinen Gedanken an der Zeremonie teilnehmen [kann]. Es ist auch die Pflicht eines jeden, begangenes Fehlverhalten vor der Teilnahme an der Zeremonie einzugestehen und um Verzeihung zu bitten. Ansonsten ist ein Fernbleiben die Gewissenspflicht des Gemeindemitglieds.“ (Kaplan/Öztürk 2006, S. 33). Anders als beim fünfmaligen Gebet, geht es in der Zeremonie um die persönliche Seelenreinigung, die Versöhnung und die Pflege der Bindungen innerhalb der Gemeinschaft. Da der Cem- Gottesdienst ein gemeinschaftlicher Akt ist, ist es sehr wichtig, dass ein Einvernehmen (rizalik) unter den Gemeindemitgliedern erzielt wird. Denn nur so ist die Verschmelzung zu einer einzigen gemeinsamen Seele möglich. „Gemeinschaften, die lange isoliert leben, sind in besonderer Weise auf den Zusammenhalt ihrer Mitglieder angewiesen. Das Schuldbekenntnis und die Buße spielen deshalb eine sehr große Rolle und bereinigen das Verhältnis […].“ (Spuler-Stegemann 2003, S. 36). Des Weiteren sind Männer und Frauen beim Beten nicht voneinander getrennt, so wie es bei den Sunniten und Schiiten der Brauch ist. Es wird keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern gemacht, da Frauen und Männer vor Gott als gleichberechtigte Geschöpfe gelten. So ist es nur natürlich, dass man gemeinsam dem Schöpfer dankt. Frauen werden bei allem miteinbezogen und können auch als Geistliche (ana) in den Gemeinden arbeiten.
Darüber hinaus werden die Gebete auf türkisch vorgetragen, um den Inhalt zu verstehen. Das Arabische, das unverzichtbar im orthodoxen Islam ist, hat keine Bedeutung. Außerdem sind religiöse Riten wie Gesänge (nefes), die mit der Langhalslaute saz begleitet werden, und religiöse Tänze (semah) Bestandteile der Zeremonie und unerlässlich für die Ausübung der Gebete im Gottesdienst. Musik und Dichtung, die aus der alevitischen Geschichte hervorgegangen sind, repräsentieren die alevitischen Werte und das alevitische Weltverständnis. Daher werden sie aktiv an die jüngeren Generationen vermittelt und sind auch Bestandteile des alevitischen Religionsunterrichts. Nach der Zeremonie wird gemeinsam ein Mahl eingenommen.
Aleviten lehnen die Scharia ab, verrichten nicht die rituellen Waschungen, fahren nicht nach Mekka, fasten kein Ramadan, betrachten den Verzehr von Schweinefleisch und den Genuss von Alkohol nicht als Verbrechen, und die Frauen tragen kein Kopftuch. All diese genannten Riten sind für einen Aleviten nebensächlich und stellen nur Äußerlichkeiten dar, die nicht unbedingt die innerlichen Überzeugungen widerspiegeln. Diese Auffassung nähert sich einem „privatisierten“, an das Gewissen des Individuums gebundene Religionsverständnis an, wie es auch in Deutschland vorherrschend ist (Vgl. Kosnick 2008). Daher sind vielmehr die Reinheit der Seele, die Erkenntnis Gottes im Herzen, die Liebe zum Menschen und zu Tieren und die Verbundenheit mit der Natur die höchsten Werte des alevitischen Glaubens. „Nach der Maxime der Aleviten soll nicht die Zunge, sondern das Herz den Glauben bekunden. Der verinnerlichte Glaube äußert sich nicht in der Erfüllung von formalen Pflichtübungen, er zeigt sich vielmehr im alltäglichen Verhalten, in der Art und Weise zwischenmenschlicher Beziehungen.“ (Aydin/Karaduman 1999, S. 41, zit. nach Tasci 2006, S. 105).